† Deutschsprachige russisch-orthodoxe Kirchengemeinde in Hamburg

Über Dawkins hinauswachsen

Die Veröffentlichung dieses Artikels ist das Ergebnis eines Dialogs mit jungen Menschen, denen es an Grundkenntnissen des christlichen Glaubens mangelt, was in dem alter noch verständlich ist. Auf der Suche nach Antworten auf Glaubensfragen stoßen sie auf „Experten“ wie die die umstrittenen Schriften des britischen Biologen und Publizisten Richard Dawkins. Dieser auch in Deutschland populäre atheistische Autor kann, wenn nicht als Begründer, so doch als prominentester Vertreter einer bestimmten Unterart des Atheismus gelten, die wir als „Dawkinsismus“ bezeichnen wollen. Er hat Anhänger und Nachahmer und verbindet populäre Wissenschaft mit einer charakteristischen Form des militanten Atheismus. Werfen wir einen Blick auf diese Werke.

I

Dawkinsismus und Chorpredigten

   Im Englischen gibt es den Ausdruck “preaching to the choir”, d.h. zu Menschen, die die Überzeugungen des Predigers seit langem teilen. Ziel einer solchen Predigt ist es nicht, den Zuhörern etwas Neues zu erzählen oder Ungläubige zu gewinnen. Es geht darum, diejenigen zu ermutigen und aufzurichten, die bereits voll und ganz zustimmen. Dieser Ausdruck beschreibt die Bücher von Richard Dawkins sehr gut – von außen betrachtet wirken sie auffallend schwach, während der Chor jubelt. Die Analogie zu einem fundamentalistischen Prediger ist kaum zu vermeiden, dessen unerschütterlich selbstbewusste Reden seinen Schäfchen als Gipfel der Weisheit erscheinen, von außen dagegen mit Skepsis betrachtet werden.

    Vor nicht allzu langer Zeit (2019) ist Dawkins’ Buch Outgrowing God: A Beginner’s Guide (Atheismus für Anfänger) in deutscher Übersetzung erschienen. Wenn ich über Dawkins’ Ansichten spreche, werde ich mich grundsätzlich auf dieses Buch beziehen und daraus zitieren. Bevor ich mich jedoch den spezifischen Argumenten des Autors zuwende, lassen sich einige allgemeine Beobachtungen zum Phänomen des charakteristischen Art von des militanten Atheismus selbst machen.

 

                      Gegner ignorieren                     

    Wie man (beim lesen) sofort sieht, bringt der Verfasser keine neuen Argumente vor, sondern wiederholt beharrlich die alten. Wer eine Art Weiterentwicklung des Themas, eine neue Wendung in der Diskussion erwartet hat, wird sie nicht finden. Seit der Veröffentlichung seines Bestsellers “Gott als Illusion” sind 14 Jahre vergangen, Dutzende von Büchern und Hunderte von Artikeln und Rezensionen erschienen, in denen Dawkins’ Argumente kritisiert wurden, sowohl von Christen als auch von Atheisten.

    Prominente christliche Autoren wie der Biochemiker und Theologe Alister McGrath, der Oxford-Mathematikprofessor John Lennox, der Philosoph Alvin Plantinga, der Philosoph William Lane Craig und viele andere haben Dawkins’ Argumente gründlich untersucht (und widerlegt). Dawkins hat auch viel Kritik von denjenigen erhalten, die ihn eigentlich unterstützen sollten – Agnostikern und Atheisten. So schrieb der bekannte Philosoph Michael Rewes (selbst Atheist): “Im Gegensatz zu den ‘neuen Atheisten’ halte ich es für notwendig, mich mit dem Thema zu befassen – und Dawkins’ Buch Gott als Illusion lässt auch mich beschämt sein, Atheist zu sein.

   Dawkins macht sich einfach nicht die Mühe, die christlichen Argumente zu verstehen, die er arrogant ins Lächerliche zieht”. Diese Welle der Kritik hätte zumindest eine gewisse Korrektur der Argumente bewirken können, scheint allerdings völlig unbeachtet geblieben zu sein. Man hat den Eindruck, dass Dawkins es vorzieht, alle Argumente und Kritik einfach zu ignorieren und so zu schreiben, als hätte es diese 14 Jahre nicht gegeben.

 

                     Analphabetismus als Prinzip                    

   Diese Vernachlässigung ist an sich schon ein interessantes Phänomen, das weniger eine persönliche Eigenschaft von Dawkins zu sein scheint, als vielmehr ein Merkmal der gesamten Subkultur des “neuen Atheismus”. Wie Dawkins selbst sagte, als er für seine Unkenntnis der christlichen Theologie kritisiert wurde: “Muss man die Wissenschaft der Kobolde verstehen, um aufzuhören, an Kobolde zu glauben?”

   Natürlich muss man einen Glauben nicht verstehen, um ihn abzulehnen, doch um ihn sinnvoll kritisieren zu können, muss man verstehen, worum es geht. Ich bin zum Beispiel kein Anhänger des Buddhismus, doch wenn ich lange Bücher schreiben würde, in denen ich den Buddhismus kritisiere, müsste ich zumindest versuchen zu verstehen, was Buddhisten glauben, und ihre Logik nachvollziehen. Wenn ich mir einen Namen (und ein Vermögen) damit machen würde, den Buddhismus anzugreifen, und gleichzeitig behaupten würde, dass ich mich weder mit den Lehren, die ich angreife, noch mit den Antworten, die Buddhisten (und kompetente Religionswissenschaftler) selbst auf meine Angriffe geben würden, auseinandersetze, dann würde ich mich als eine extrem selbstgerechte und ignorante Person darstellen, die weder intellektuell noch ethisch hohes Ansehen verdient.

   Angriffe ähnlicher Qualität gegen das Christentum haben Dawkins in den Rang eines “führenden öffentlichen Intellektuellen” erhoben. Wie kommt das? Der amerikanische christliche Philosoph William Lane Craig weist darauf hin, dass der “neue Atheismus” kein Phänomen des intellektuellen Lebens ist, sondern ein Phänomen der Populärkultur. Diskussionen zwischen wirklich hochgebildeten Philosophen über Theismus und Atheismus finden auf einer Ebene statt, die nur schwer zu durchdringen ist. Bücher zu diesem Thema verkaufen sich nicht in großen Mengen – die Kunden wünschen sich in der Regel etwas Einfacheres, einen geistreichen Journalismus mit humorvollen Elementen, der ihnen zugleich das Gefühl gibt, am intellektuellen Leben teilzuhaben. Es sind keine schwierigen Bücher, die einem klarmachen, dass das eigene Wissen unzureichend ist, und einen auf ein höheres intellektuelles Niveau heben; es sind leichte Bücher, die einem versichern, dass das eigene Niveau bereits in Ordnung ist.

    Sie sagen einem, dass man, wenn man nicht an Gott glaubt, viel klüger ist als der selige Augustinus, Descartes, Pascal, Newton, Boyle und der Großteil der Menschheit überhaupt – und ist das nicht großartig? Dawkins’ nicht allzu dickes und keineswegs schwieriges Buch gibt einem die Gelegenheit, sich zu fühlen, wie gut man ist, und von seinem eroberten intellektuellen Gipfel aus stolz auf die Anhänger eines lächerlichen Aberglaubens herabzublicken, die unter ihm kauern. Um dies zu erreichen, kann und darf ein Buch nicht langweilig sein und darf kein tiefes Eindringen in die Materie erfordern. Wie C. S. Lewis’ in “Dienstanweisung für einen Unterteufel” sagt: “Selbstherrliches Geschwätz, nicht Argumente, werden dir helfen, deinen Patienten von der Kirche fernzuhalten. Verschwende keine Zeit damit, ihn von der Wahrheit des Materialismus zu überzeugen: Suggeriere ihm, dass der Materialismus stark oder kühn ist, dass er die Philosophie der Zukunft ist.”

    Dawkins macht jedoch keinen Hehl daraus, dass sein neuestes Buch für Teenager geschrieben ist, denen sein vorheriges magnum opus, Gott als Illusion, zu schwierig war. Das mag seltsam klingen – was ist an “Gott als Illusion” für einen Teenager schwierig und unzugänglich? Es gibt wohl kaum ein Buch, das jugendfreundlicher ist! Wer hat nicht mit fünfzehn geglaubt, er sei klüger als alle anderen? Die Kombination aus schlummernder Unwissenheit und undurchschaubarem Selbstvertrauen kann anstrengend sein, nur was ist daran so unverständlich? Doch gehen wir weiter und betrachten wir Dawkins’ Argumente.

 

  Über Slogans, die vorgeben, Argumente zu sein

    Dawkins’ Bücher sind allerdings in anderer Hinsicht interessant – als Enzyklopädie typischer Angriffe auf den Gottesglauben, die immer wieder und von vielen verschiedenen Leuten wiederholt werden. Das sind keine Argumente, das sind Schlagworte. Das Argument ist Teil der Diskussion, es lebt und verändert sich, wenn es auf Einwände trifft und sich mit ihnen auseinandersetzt. Slogans wie “Religion ist die Ursache aller Kriege!”, “Religion ist eine psychiatrische Störung!”, “Es gibt nicht den geringsten Beweis für die Realität Gottes!”– werden seit Jahren und Jahrhunderten unverändert verkündet. Natürlich haben Slogans ihren Sinn und Zweck – zur Selbstvergewisserung, zur Aufrechterhaltung des Zusammengehörigkeitsgefühls, zur Sicherung der Kontinuität -, aber sie sind nicht Teil unseres geistigen Lebens. Es wäre ein Fehler, sie als Argumente zu betrachten, insbesondere als entscheidende Argumente.

   Der Slogan mag einmal ein Argument gewesen sein, doch als er vor langer Zeit beantwortet wurde und sich weigerte zu antworten, in irgendeiner Weise verändert zu werden oder einfach seine Niederlage einzugestehen und die Bühne zu verlassen, hörte er schließlich auf, sich zu entwickeln, um Dawkins’ prägnante biologische Sprache zu verwenden, und wurde zu einem lebenden Fossil. Dennoch sind diese Slogans eine Überlegung wert, denn wir sollten bereit sein zu sagen, dass, wenn ein Slogan einmal ein Argument in einer Debatte war, die Antworten längst gegeben sind. Und nur die grundsätzliche Ignoranz, die diese Art von Atheismus auszeichnet, die hartnäckige Weigerung, etwas über die wirklichen Ansichten des Gegners zu erfahren, erlaubt es, sie als lebendige Argumente zu betrachten.

    Nach dieser langen Vorrede wollen wir uns nun den einzelnen Slogans zuwenden.

 

        An welchen Gott?

    Auf die Frage “Glaubst du an Gott?” antwortet Dawkins ironisch: “An welchen? “Menschen auf der ganzen Welt haben im Laufe der Geschichte Tausende verschiedener Götter angebetet”, schreibt er und zählt die verschiedenen heidnischen Gottheiten auf, die in den unterschiedlichen Mythologien für verschiedene Lebensbereiche zuständig sind.

   Diese Frage wäre für ein sowjetisches – oder chinesisches – Schulkind verständlich gewesen, das einfach keine Ahnung von Religion hatte und nur antireligiöse Karikaturen sah, die den Gott der Bibel neben afrikanischen Götzen und Baba Yaga zeigten. Doch schreibt Dawkins seit Jahren und Jahrzehnten Bücher und Artikel über Religion. Es ist unverständlich, wie er es in dieser Zeit nicht geschafft hat, sich wenigstens die grundlegendsten Kenntnisse über Religion anzueignen. Die Frage nach dem “Glauben an Gott” setzt im europäischen Kulturkreis selbstverständlich den christlichen Gott voraus, allgemeiner den Gott des ethischen Monotheismus. Diesen Gott mit Odin, Thor, Aphrodite oder Bacchus auf eine Stufe zu stellen, ist nicht Unglaube, sondern Ignoranz.

    Sie mögen glauben, dass sowohl die heidnischen Götter als auch der Gott des Monotheismus rein spekulative Konzepte sind, denen in der Realität nichts entspricht, aber Sie sollten wissen, dass es sich um grundlegend verschiedene Konzepte handelt. Die heidnischen Götter sind in der Welt, sie sind ein Teil von ihr, sie sind zwar mächtiger als die Menschen, doch nicht allmächtig. Sie ähneln einer menschlichen Aristokratie, die als Gegenleistung für Steuern und Huldigungen Patronage gewährt. Es gibt ständige Konflikte zwischen ihnen, und sie können in den Kriegen der Menschen auf verschiedenen Seiten stehen. Die Götter können durch die Hand des anderen besiegt werden. Sie sind nicht allmächtig und man kann nicht sagen, dass sie die Menschen lieben. Sie mögen Günstlinge haben, so wie Aristokraten Günstlinge haben können, aber keine allumfassende oder gar aufopfernde Liebe zum Menschengeschlecht. Sie sind kaum moralisch – Zeus zum Beispiel ist ein heftiger Hurer und betrügt seine Frau Hera (arme Göttin!) mit allen. Dabei hatte er selbst eine schwierige Kindheit – sein eigener Vater Kronos versuchte, ihn zu töten.

    Der Gott des ethischen Monotheismus steht außerhalb der Welt und ist ihr Schöpfer: wie der Künstler außerhalb des Bildes oder der Komponist außerhalb der Symphonie. Er hat keine Rivalen, mit denen er um die Macht ringt. Er hat keine Leidenschaften, die ihn in zweifelhafte Abenteuer treiben. Er ist allmächtig und sittlich gut. Zu verstehen, dass der Gott der Bibel nicht Zeus oder Thor oder Bacchus und Aphrodite ist, ist keine Frage des Glaubens. Es ist eine Frage minimaler religionswissenschaftlicher Kenntnisse, über die Dawkins leider nicht verfügt. Und dieser Gott ist nicht “einer unter Tausenden”, was Dawkins’ Argument schlicht irrelevant macht.

 

  Historisch unbegründete Analogien

    Dawkins schreibt: “Ich glaube nicht an die Götter des alten Ägypten wie Osiris, Thot, die Nuss Anubis oder Horus, seinen Bruder, der wie Jesus und viele andere Götter von einer Jungfrau geboren worden sein soll. Viele erinnern sich an das berühmte Zitat aus “Der Meister und Margarita”: “Es gibt keine orientalische Religion”, sagt Berlioz, “in der nicht eine keusche Jungfrau einen Gott geboren hat. Und die Christen haben, ohne etwas Neues zu erfinden, auf dieselbe Weise ihren Jesus geschaffen, der nie wirklich gelebt hat. Darauf muss der Akzent gelegt werden”.

    Wie man sieht, war das Argument schon lange vor Dawkins versteinert. Doch was ist wirklich dran an “wie vielen Göttern, geboren von einer Jungfrau”? Wenden wir uns einem anderen Atheisten zu, aber einem besser informierten. Bart Ehrman, ein Experte für das Neue Testament, den Dawkins zwar zustimmend erwähnt, aber offensichtlich nicht gelesen hat. In seinem Buch “Gab es einen Jesus” findet Ehrman eine wahrscheinliche Primärquelle für die These von den “heidnischen Jungfrauen, die Erlöser gebären”. Es handelt sich um das Buch von Kersey Graves, Sixteen Crucified Saviours: Christianity Before Christ (1875). Graves schreibt: “Das Studium der Geschichte des Orients enthüllt die überraschende Tatsache, dass es bei den meisten (wenn nicht allen) heidnischen Völkern des Altertums Geschichten von auferstandenen Göttern gab, die der wunderbaren Gestalt Jesu Christi ähnelten. Die Erzählungen von einigen dieser Auferstehung sind denen des christlichen Erlösers so verblüffend ähnlich – nicht nur in den allgemeinen Merkmalen, sondern manchmal auch in den kleinsten Details (von der Legende der unbefleckten Empfängnis bis zur Legende der Kreuzigung und der anschließenden Himmelfahrt) -, dass sie kaum verwechselt werden können.”

     Graves führt eine Reihe von Beispielen an, die dann in vielen atheistischen Büchern und Artikeln verbreitet wurden. Er hat nur ein Problem, auf das Ehrman hinweist: “Man könnte sich fragen: Woher kommt das alles? Graves belegt seine Behauptungen in keiner Weise. Der Leser muss ihn beim Wort nehmen. Wenn jemand nachprüfen will, ob das wirklich mit Buddha, Mithras oder Cadmus geschehen ist, weiß er nicht, wo er suchen soll. Graves gibt die Quellen seiner Informationen nicht an. Nun, ist er damit allein? Seitdem sind 140 Jahre vergangen, und solche unbewiesenen Behauptungen werden von einem mythologischen Buch zum nächsten weitergegeben.

     Ehrman weist besonders darauf hin, dass die antike Welt keine “Jungfrauengeburten” kannte. Die Heiden hatten viele Mythen über die körperliche Verbindung zwischen Göttern und irdischen Frauen, aber diese Frauen waren natürlich keine Jungfrauen, und ihre halbgöttlichen Kinder wurden auf die übliche Weise geboren – aus der Intimität zwischen einem Mann und einer Frau, selbst wenn der Mann ein heidnischer Gott war.

    Dawkins gibt einfach alte atheistische Fälschungen wieder, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die Grundlagen der Ideen, die er dem Leser anbietet, zu erforschen. Die zutiefst ironische Situation, dass Leute, die sich sarkastisch über die Leichtgläubigkeit lustig machen und Beweise für alles fordern, eklatante Fälschungen wiederholen, ist im Internet allgegenwärtig – und Dawkins selbst ist eines der prominentesten Beispiele.

 

  Wenn Sie woanders geboren wurden … 

     Dawkins schreibt: “Einer der Gründe, warum ich den Glauben aufgegeben habe, ist, dass mir im Alter von etwa neun Jahren klar wurde, dass ich, wäre ich in eine Wikingerfamilie hineingeboren worden, einen starken Glauben an Odin und Thor gehabt hätte. Wäre ich im antiken Griechenland geboren worden, hätte ich Zeus und Aphrodite verehrt. Wäre ich heute in Pakistan oder Ägypten geboren, würde ich glauben, dass Jesus nur ein Prophet war und nicht der Sohn Gottes, wie christliche Priester lehren. …. Menschen, die in verschiedenen Ländern aufgewachsen sind, kopieren ihre Eltern und glauben an den Gott – oder die Götter – ihres Landes. Diese Überzeugungen sind widersprüchlich und können nicht alle wahr sein.

     Diese These, die Dawkins seit Jahren wiederholt – “Wenn du an Gott glaubst, dann nur, weil du gedankenlos deine Eltern kopierst” – klingt zum Beispiel in Russland besonders überraschend. Tatsächlich schließt Dawkins bei der Aufzählung möglicher Geburtsentscheidungen völlig aus, “in der UdSSR oder in China geboren zu sein”. Ich bin in der UdSSR geboren und aufgewachsen, in einer Atmosphäre des “wissenschaftlichen Atheismus”. Das helle Reich der Vernunft und der Wissenschaft, von dessen Zukunft westliche Atheisten immer noch träumen, habe ich in meiner Vergangenheit schon gesehen.

Wenn Dawkins mich auffordert, die Ideen zurückzuweisen, die mir als Kind, als ich noch nicht mit meinem eigenen Kopf dachte, aufgezwungen wurden – nun, genau das habe ich getan. Aber was ist die Grundlage des Arguments selbst? “Es gibt viele widersprüchliche Religionen auf der Welt, also muss man Atheist sein”? Offensichtlich mit der versteckten Prämisse, dass Atheismus als Standardposition akzeptiert wird. Er ist nicht nur eine Weltanschauung neben anderen, sondern die Ausgangsposition, von der aus wir alle anderen Weltanschauungen betrachten müssen.

 

                   Atheismus und die Beweislast                  

     Doch worauf gründet sich der Anspruch des Atheismus, ein solcher Ausgangspunkt zu sein? Wie uns die Atheisten selbst erklären werden, auf einem Konzept wie dem der Beweislast. Um an etwas zu glauben, zum Beispiel an die fliegende Untertassen, braucht man Beweise. Aber um im Unglauben zu verharren, braucht man keine Beweise. Man muss nicht beweisen, dass es keine fliegenden Untertassen gibt, und wie könnte man das auch?

    Auch beim Glauben an Gott sind es die Gläubigen, die Beweise liefern müssen, während der Nichtglaube keine Beweise braucht, er ist die Standardposition. Dawkins sagt: “Wenn Menschen sagen, dass sie Atheisten sind, meinen sie nicht, dass sie beweisen können, dass es keine Götter gibt. Streng genommen ist es unmöglich zu beweisen, dass etwas nicht existiert. Wir können nicht mit Sicherheit wissen, dass es keine Götter gibt – genauso wenig, wie wir beweisen können, dass es keine Feen oder Kobolde oder Wichtel oder rosa Einhörner gibt; genauso wenig, wie wir beweisen können, dass es keinen Weihnachtsmann oder Osterhasen oder die Zahnfee gibt … und wir glauben nicht an sie.”

   Worin liegt der Fehler einer solchen Argumentation? Es gibt mehrere, doch wollen wir zunächst nur zwei betrachten.

 

      Der Atheismus hat seine eigene Beweislast     

    Natürlich müssen Atheisten nicht beweisen, dass es keinen Gott gibt. Doch wenn sie Gott leugnen, bieten sie unweigerlich ihre eigene Erklärung der Realität an, und es ist ihre Pflicht, diese zu beweisen. Wenn ich beim Betrachten eines Gemäldes die Existenz des Künstlers leugne, kann ich nicht einfach sagen: “Du glaubst an den Künstler, du beweist seine Realität”. Ich muss die Frage beantworten, woher das Bild meiner Meinung nach kommt. Wenn es keinen Schöpfer gibt, warum gibt es dann das Universum? Wenn es keine Seele gibt, warum gibt es dann Bewusstsein, Willen, moralisches Empfinden?

    Deshalb kann der Atheismus keine reine Verneinung sein – und ist es auch nicht. Er bietet seine eigenen Erklärungen der Realität an, insbesondere der Realität des menschlichen Bewusstseins. Nehmen wir zum Beispiel die Erklärung zur Verteidigung des Klonens, die von den führenden atheistischen Intellektuellen der Welt und insbesondere von Dawkins selbst unterzeichnet wurde. Hier der Text der Erklärung: “Einige Religionen lehren, dass der Mensch sich grundlegend von anderen Säugetieren unterscheidet, dass eine Gottheit den Menschen mit einer unsterblichen Seele ausgestattet hat, die ihm einen Wert verleiht, der mit keinem anderen Lebewesen vergleichbar ist. Die menschliche Natur sei einzigartig und heilig. Wissenschaftliche Errungenschaften, die diese “Natur” verändern könnten, stoßen auf heftigen Protest.

    Wie tief auch immer die dogmatischen Wurzeln solcher Vorstellungen sein mögen, wir fragen uns, ob sie bei der Entscheidung, ob der Mensch von der neuen Biotechnologie profitieren darf, berücksichtigt werden sollten. Die Spezies Homo sapiens gehört, soweit die Wissenschaft dies beurteilen kann, zum Tierreich. Die menschlichen Fähigkeiten scheinen sich von denen der höheren Tiere nur im Grad, nicht aber in der Qualität zu unterscheiden. Der Reichtum des menschlichen Denkens, Fühlens, Hoffens und Strebens entspringt offenbar elektrochemischen Prozessen im Gehirn und nicht einer immateriellen Seele, deren Modus Operandi kein Instrument aufspüren kann”.

     Das sind sehr klare Aussagen über die Wirklichkeit, die sicherlich einer Begründung bedürfen. Wir haben überhaupt keinen Grund, sie als selbstverständlich hinzunehmen. Dass “der Reichtum des menschlichen Denkens, Fühlens, Hoffens und Strebens offenbar elektrochemischen Prozessen im Gehirn entspringt”, ist nicht nur nicht plausibel, sondern wirft auch enorme philosophische Probleme auf. Einfach gesagt, ist diese Weltsicht absurd. Wenn der Materialismus wahr ist, haben wir zum Beispiel keinen freien Willen (was Dawkins und andere Materialisten ausdrücklich anerkennen), weil “elektrochemische Prozesse im Gehirn” vollständig den Naturgesetzen unterliegen. Dennoch schreibt Dawkins Bücher und Artikel, in denen er versucht, die Menschen umzustimmen – als ob sie, im Gegensatz zu seinem eigenen Weltbild, einen freien Willen hätten und sich entscheiden könnten, seine Argumente zur Kenntnis zu nehmen und ihre Ansichten zu ändern.

    Wir haben keinen Grund, den Atheismus von vornherein zu akzeptieren. Sobald wir anfangen, über den Inhalt dieser Weltanschauung nachzudenken, stoßen wir auf unüberwindliche Widersprüche. Sie sind so unbegründet, dass es scheint, als hätten wir es mit Trolling zu tun – “Leute, die ernsthaft an Feen und Kobolde, Förster und Hausmänner glauben, sind dumm und ignorant, und ihr Christen seid genauso dumm, ha ha! Aber nehmen wir an, dass Dawkins und seine Anhänger den Unterschied wirklich nicht verstehen und dass er erklärt werden muss.

     Die Figuren der niederen Mythologie werden als Teil dieser Welt betrachtet. Feen und Elfen sind nicht allmächtig – und so können wir sie zu überrumpeln, beobachten, etwas wissen, was sie nicht wissen. Sie brauchen Raum zum Leben, eine Art Behausung, sie brauchen Nahrung, also eine Art Wirtschaft und Landwirtschaft. Wir sollten ziemlich vorhersehbare Möglichkeiten haben, sie zu finden – wenn es sie gäbe.

     Gott des biblischen Theismus ist kein Teil dieser Welt. Er ist ihr Schöpfer. Versuchen wir eine grobe Analogie. Der Raum eines Computerspiels kann von vielen Figuren bevölkert sein – Menschen, Tieren, Märchenwesen. Aber unter ihnen wird man kaum den Schöpfer dieser Spielwelt finden. Man kann die virtuelle Welt, die er geschaffen hat, von einem Ende zum anderen durchwandern, ohne ihm jemals zu begegnen, obwohl man mit gutem Grund davon ausgehen kann, dass das Spiel einen Schöpfer hat (oder besser, da es sich um ein Spiel handelt, ein Kollektiv von Schöpfern) – es hat sich nicht selbst geschrieben. Die Frage “Gibt es Elfen unter den Charakteren eines bestimmten Computerspiels” ist etwas anderes als “Hat es einen Schöpfer?

    Wenn einige Spieler das Gerücht in die Welt gesetzt haben, dass es irgendwo im Spiel ein geheimes Level mit Elfen gibt, und alle Spieler, die die Spielserver auf der ganzen Welt besuchen, dieses Level nicht gefunden haben, können wir daraus schließen, dass es höchstwahrscheinlich keine Elfen gibt und es sinnlos ist, Zeit mit der Suche nach ihnen zu verschwenden. Das macht allerdings die Annahme nicht plausibler, dass niemand das Spiel erfunden hat und dass es durch zufällige Störungen im Betriebssystem entstanden ist, die übrigens niemand erfunden hat.

    Ebenso wenig kann man in der geschaffenen Welt über Gott stolpern, als sei er eines ihrer Elemente, oder ihn überrumpeln, als sei sein Wissen oder seine Macht begrenzt. Was ich hier schreibe, ist nicht neu – es war schon Jahrhunderte vor der Veröffentlichung von “Gott als Illusion” bekannt, und seit der Veröffentlichung dieses Buches haben viele Autoren versucht, es Dawkins zu erklären, aber leider schützt ihn seine Weigerung, in die Tiefe zu gehen, zuverlässig vor Fehlerkorrekturen und intellektuellem Wachstum.

   In den folgenden Artikeln werden wir Dawkins’ andere Behauptungen untersuchen, die ebenfalls sehr auffällig sind.

II

Dawkins, Hume und außergewöhnliche Behauptungen

    Eines der populärsten Argumente gegen den christlichen Wunderglauben, das Dawkins in seinem Buch Outgrowing God anführt, geht auf David Hume zurück. Dawkins drückt es so aus: “Der große schottische Philosoph des 18. Jahrhunderts, David Hume, hat sich zu Wundern geäußert, und ich möchte darauf eingehen, weil es wichtig ist. Ich werde seine Gedanken in meinen eigenen Worten wiedergeben. Wenn jemand behauptet, er habe ein Wunder gesehen – zum Beispiel, dass Jesus von den Toten auferstanden ist ….. – dann haben wir zwei Möglichkeiten.

Möglichkeit 1: Es ist wahr.

Möglichkeit 2: Die Zeugen irren sich – entweder lügen sie, oder sie halluzinieren, oder ihre Worte wurden falsch wiedergegeben, oder sie sind Teil eines Scherzes. Sie könnten sagen: “Diese Zeugen sind so vertrauenswürdig, dass ich bereit bin, ihnen mein Leben anzuvertrauen, und es gab noch viele andere Zeugen – es wäre ein Wunder, wenn sie lügen oder sich irren würden.

   Doch Hume würde antworten: “Okay, aber wenn Sie sogar annehmen, dass Option 2 ein Wunder ist, werden Sie sicher zustimmen, dass Option 1 noch wunderbarer ist. Wenn du zwischen zwei Möglichkeiten wählen musst, wähle immer die weniger wunderbare”.

  Der berühmte Wissenschaftspopulist Carl Sagan, den auch Dawkins zitiert, argumentiert ähnlich: “Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Beweise”.

    Humes Argument gegen Wunder wird oft zitiert und soll daher etwas näher betrachtet werden. Hume selbst sagt: “Ein Wunder ist eine Verletzung der Naturgesetze, und da diese Gesetze durch solide und unveränderliche Erfahrung aufgestellt worden sind, ist der Beweis gegen Wunder aufgrund der Natur der Sache so vollständig, wie ein auf Erfahrung basierendes Argument nur sein kann. Tatsache ist, dass alle Berichte über übernatürliche Ereignisse – wie die Auferstehung Jesu von den Toten – außergewöhnlich sind. Normalerweise geschieht nichts dergleichen, unsere Erfahrung – und die vieler Generationen – ist, dass die Toten tot bleiben, und im Allgemeinen beobachten wir keine übernatürlichen Phänomene. Mit anderen Worten: Wenn all unsere Erfahrung besagt, dass die Toten nicht auferstehen, dann sollte eine Aussage, die dieser Erfahrung widerspricht, mit großer Skepsis aufgenommen werden.

    Es bedarf also außergewöhnlicher Beweise, um Berichte über das Übernatürliche für wahr zu halten, und Atheisten sind der Ansicht, dass Berichte über Wunder dieses Kriterium nicht erfüllen. Humes Argument hat eine umfangreiche Literatur hervorgebracht, die viele Gründe anführt, warum es falsch ist. Hier sollen nur einige davon genannt werden.

 

Zirkelschluss-Argument

     Humes Argument enthält einen logischen Fehler, der im Lateinischen idem per idem, “Gleiches mit Gleichem”, genannt wird und auch ein “Zirkelschluss” ist. Der Fehler besteht darin, dass das Argument von vornherein impliziert, was es zu beweisen versucht. Wie in der berühmten Anekdote:

“Er ist so ein heiliger Mann, so ein heiliger Mann! Jeden Tag spricht er mit Gott!

– Ist er nicht ein Lügner?

– Wie kann ein Mensch, der jeden Tag mit Gott spricht, lügen?”

Ein weiteres Beispiel, das gerne auf atheistischen Websites zitiert wird, lautet: “Die Bibel ist von Gott inspiriert und wahr, weil es so in der Bibel steht”.

Tatsächlich ist die Schlussfolgerung, zu der man kommt, bereits in der Prämisse versteckt. Humes Argument macht den gleichen Fehler. Um ihn zu verdeutlichen, sollten wir ihn etwas prägnanter formulieren:

  1. Solide und unveränderliche Erfahrungen zeigen, dass es keine Wunder gibt.
  2. Folglich sollten wir das Zeugnis von Wundern nicht akzeptieren. Absatz 1 sagt bereits, was Absatz 2 sagt. In der Tat umfasst die menschliche Erfahrung eine Vielzahl von Nachrichten über übernatürliche Phänomene, und die einzige Möglichkeit zu sagen, dass “feste und unveränderliche Erfahrung” gegen Wunder ist, ist, alle Beweise für Wunder von vornherein für falsch zu erklären. Wie der Philosoph William Lane Craig betont, “zu sagen, dass solide und unveränderliche Erfahrung gegen die Möglichkeit von Wundern spricht, impliziert bereits, dass es keine Wunder gibt”.

   Hume schließt a priori alle Wunder aus der menschlichen Erfahrung aus und folgert dann aus der so behandelten Erfahrung, dass es keine Wunder gibt. Humes Argument ist im Grunde eine Tautologie – da Wunder nicht vorkommen, gibt es auch keine Wunder. Das allein macht Humes Argument ungültig. Aber wir sollten auch einige seiner anderen Schwierigkeiten in Betracht ziehen.

 

Widersprechen Wunder den Naturgesetzen?

     Schon die Definition eines Wunders als “Verstoß gegen die Naturgesetze” ist schwer zu akzeptieren. Hier ein Beispiel. Stellen Sie sich vor, ich hätte in der Datscha ein 32 kg schweres Gymnastikgewicht unter meinem Bett vergessen. Als ich in die Datscha zurückkehre, finde ich es auf dem Schrank. Bedeutet das, dass das Gesetz der universellen Schwerkraft gebrochen wurde? Nein, es würde einfach bedeuten, dass jemand, der stark genug war, das Gewicht auf den Schrank zu werfen, während meiner Abwesenheit in der Datscha war.

    Ein Wunder bedeutet auch nicht, dass die Natur in der Lage ist, ihre Gesetze zu brechen, sondern das Eingreifen einer mächtigen, nichtnatürlichen Kraft. Für die Christen war ein Wunder nie ein Beweis dafür, dass die Naturgesetze nicht funktionieren. Es diente als Beweis für das Eingreifen Gottes.

   Außerdem konnte ein Wunder nur vor dem Hintergrund als Wunder erkannt werden, dass die Natur den für sie geltenden Gesetzen gehorcht. Die Auferstehung Jesu ist ein einzigartiges Zeichen Gottes, gerade weil Tote normalerweise nicht auferstehen und die Auferstehung eines Toten etwas nie Dagewesenes und Unerhörtes ist. Ich kann mit Sicherheit wissen, dass jemand in meinem Haus war, gerade weil Gewichte normalerweise dem Gesetz der universellen Schwerkraft gehorchen und dort bleiben, wo sie sind.

   Ein solcher Eingriff stellt keineswegs die Naturgesetze in Frage oder widerlegt unsere Alltagserfahrung. Genauso wenig wird das Gesetz der universellen Gravitation in Frage gestellt, wenn jemand ein Gewicht in einem Schrank verschiebt.

 

Verabsolutierung begrenzter Erfahrungen

    Ein weiterer Fehler in diesem Argument gegen Wunder liegt in der Verabsolutierung der notwendigerweise begrenzten menschlichen Erfahrung. Im Jahre 1768 wurden der Pariser Akademie der Wissenschaften mehrere Meteoriten vorgelegt, von denen Zeugen berichteten, sie seien “vom Himmel gefallen”. Natürlich waren solche Berichte “außergewöhnlich” – Steine fallen normalerweise nicht vom Himmel. Alle Erfahrung sagt uns, dass ein Stein, der vom Himmel fällt, das Letzte ist, was wir zu befürchten haben. Es gab keine außergewöhnliche Bestätigung – es gab Zeugnisse von einigen einfachen und ungebildeten Leuten, die einen solchen Fall beobachtet hatten.

    Die Gelehrten erkannten diesen Beweis als falsch an, denn “Steine können nicht vom Himmel fallen”. Diese Steine konnten nicht vulkanisch sein, die Theorie, dass Steine während eines Gewitters aus der Luft kondensieren könnten, wurde zu Recht verworfen, und die Theorie, dass Steine aus dem Weltraum kommen könnten, war den Gelehrten noch nicht bekannt – und in voller Übereinstimmung mit ihrer Erfahrung (und in Übereinstimmung mit Humes Ansatz) erkannten sie die Berichte abergläubischer und ungebildeter Menschen über “Steine vom Himmel” als falsch an. Heute wissen wir, dass sie sich aufgrund der unvermeidlichen Grenzen ihres Wissens irrten.

   So führt der von Hume vorgeschlagene und von Sagan und Dawkins übernommene Ansatz auch bei ganz gewöhnlichen, nicht übernatürlichen Phänomenen zu Irrtümern.

 

Wie wird die Wahrscheinlichkeit bestimmt?

    Doch wie bestimmen wir die “Außergewöhnlichkeit” eines Phänomens? Wenn wir sagen, dass ein Phänomen extrem unwahrscheinlich ist und wir davon ausgehen müssen, dass die Berichte über dieses Phänomen eher falsch sind, dann müssen wir diese Wahrscheinlichkeit irgendwie bewerten. Aber wie machen wir das?

    Wir schätzen die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses auf der Grundlage unserer bisherigen Erfahrungen, auf der Grundlage des Hintergrundwissens, das wir bereits über die Welt haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass es nach einer bestimmten Operation zu Komplikationen kommt, beträgt zum Beispiel 5 %, basierend auf den Erfahrungen mit früheren Operationen dieser Art. Eine solche Schätzung ist aber nur für wiederkehrende Naturereignisse möglich, über die wir bereits ein gewisses Wissen haben.

    Die Wahrscheinlichkeit eines einmaligen Ereignisses können wir nicht abschätzen. Dazu ein weiteres Beispiel. Stellen Sie sich vor, ein Flugzeug kommt vom Kurs ab und fliegt im Tiefflug über ein indianisches Dorf irgendwo im Amazonasdschungel. Die Indianer wissen nichts von Flugzeugen, sie sehen es zum ersten und zum letzten Mal, und wenn sie im Nachbardorf von ihrer Vision eines riesigen brüllenden Vogels erzählen, wird man ihnen nicht glauben. In der Lebenswelt eines isolierten Stammes im Dschungel gibt es keine Flugzeuge.

    “Wo sind die außergewöhnlichen Beweise für eure außergewöhnlichen Behauptungen?” – werden die skeptischen Inder fragen, und sie werden sich offensichtlich irren. Nun, was haben sie falsch gemacht? Die Erfahrung von Generationen ihrer Vorfahren, die im selben Dschungel lebten, sagt ihnen, dass es keine riesigen brüllenden Vögel gibt. Sie kennen ihren heimischen Urwald in- und auswendig und wissen viel über Tiere und Vögel – und so etwas gibt es in ihrer Welt nicht.

    Das Problem ist, dass ihre Erfahrung, aus der sie die Außergewöhnlichkeit dieses Ereignisses ableiten, auf das Leben im Dschungel beschränkt ist. Wir, die wir einen etwas breiteren Blickwinkel haben, werden im Flugzeug nichts Außergewöhnliches sehen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es vieles gibt, was außergewöhnlich ist. jenseits unserer Erfahrung und doch real. Wie können Indianer die Wahrscheinlichkeit einschätzen, dass ein Flugzeug über ihr Dorf fliegt? Sie wissen es nicht. Es ist ein einmaliges Ereignis, das es noch nie gegeben hat und das sich wahrscheinlich auch nicht wiederholen wird. Aber sie können etwas anderes einschätzen: Wie wahrscheinlich ist es, dass alle ihre Stammesangehörigen, die von diesem Ereignis berichten, nicht die Wahrheit sagen? Haben sie den Verstand verloren? Haben sie einen Grund, bewusst zu lügen? Sind sie als leichtsinnige Phantasten bekannt? Halten sie an ihren Behauptungen fest, obwohl sie mit Unglauben und Spott konfrontiert werden?

    Mit anderen Worten, die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses sollte danach beurteilt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass wir diesen Beweis hätten, wenn das Ereignis nicht stattgefunden hätte. Wie wahrscheinlich ist es, dass unsere Zeugen lügen oder halluzinieren? Wenn es unwahrscheinlich erscheint, sollten die Indianer zustimmen – ihre Nachbarn haben wirklich gesehen, was sie zu sehen behaupten.

    Die Apostel verkünden die Auferstehung Christi als ein einzigartiges Ereignis, das die gesamte Schöpfungsgeschichte radikal verändert. Sie sagen nicht: “Von Zeit zu Zeit, im natürlichen Lauf der Dinge, stehen die Toten auf. Sie sagen, dass der Schöpfer des Universums auf machtvolle, einzigartige und entscheidende Weise in die Geschichte eingegriffen hat. Wir können die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses ebenso wenig berechnen wie beispielsweise die Wahrscheinlichkeit des Urknalls, mit dem nach der modernen Kosmologie die Existenz unseres Universums begann. Obwohl der Urknall ein außergewöhnliches, ja unglaublich außergewöhnliches und völlig einmaliges Ereignis ist, glauben die Wissenschaftler aufgrund einer Reihe von Indizien, die jedoch zwingend sind, daran.

    Bei der Beurteilung des Zeugnisses der Apostel ist es schwierig, nach der Wahrscheinlichkeit der Auferstehung selbst zu fragen – wie würden wir sie berechnen? Wir sollten über die Wahrscheinlichkeit und Plausibilität alternativer Erklärungen nachdenken. Lügen die Apostel? Apostolische Verschwörungstheorien sind in unserer Zeit völlig aus der Mode gekommen weil die Apostel offensichtlich kein Motiv hatten, solche Lügen zu erfinden und angesichts von Anfeindungen und Verfolgung daran festzuhalten. Alle sind sich einig, dass die Kirche aus dem aufrichtigen – und leidenschaftlichen – Glauben der Jünger entstanden ist, dass Jesus wirklich von den Toten auferstanden ist. Halluzinieren sie? Diese Version ist weitaus populärer. Aber konnte eine Halluzination die Menschen davon überzeugen, dass ihr Lehrer, der einen elenden und schändlichen Tod gestorben war, tatsächlich der auferstandene Herr und Heiland war, den sie allen Völkern verkünden sollten, trotz heftiger Verfolgung, Folter und eines grausamen Todes? Die Menschen glaubten damals, dass die Lebenden die Geister der Toten sehen könnten. Warum also wurde die angebliche Halluzination nicht als Gespenst angesehen, sondern gab den Aposteln den unerschütterlichen Glauben an die leibliche Auferstehung Jesu?

    Und wo sollten wir das leere Grab verstecken? Sowohl für die Apostel als auch für ihre Gegner war es leicht zu sehen, ob der tote Körper Jesu dort lag, wo sie ihn hingelegt hatten, was das Ende der Halluzination bedeutet hätte. Die Geschichte vom leeren Grab für erfunden erklären? Aber das würde die Apostel zu Betrügern machen und nicht zu Betrogenen, und wir wären wieder bei der Verschwörungstheorie. Außerdem zu äußerst ungeschickten Betrüger – in der Erzählung wird das leere Grab von Frauen entdeckt, was dann jahrhundertelang den Spott der Heiden auf sich zog. Frauen galten damals nicht als glaubwürdige Zeuginnen.

    Zudem wurde das Grab selbst von einem Mitglied des Sanhedrins, Joseph von Arimathäa, für die Bestattung Jesu zur Verfügung gestellt. Angesichts der intensiven Feindseligkeit des Sanhedrins gegenüber den frühen Christen wäre es äußerst merkwürdig, ein positives Mitglied des Sanhedrins in die Erzählung einzuführen.

    Die vernünftigste Schlussfolgerung ist, dass die Apostel nicht lügen. Sie halluzinierten auch nicht. Sie haben Ihn wirklich lebend gesehen. Nun hier haben wir wieder das Problem des Zirkelschlusses – kein Beweis für das Übernatürliche wird akzeptiert, weil er nie akzeptiert wird.

 

    Absolutes Verbot des Übernatürlichen.  

     Ein einfaches Gedankenexperiment zeigt, wie die Argumentation von Hume, die uns Dawkins anbietet, ad absurdum geführt wird. Stellen wir uns vor, wir wären dabei, als der auferstandene Herr seinen Jüngern begegnet und mit ihnen Mahl hält.

    Wir könnten zu dem Schluss kommen, dass wir Zeugen eines Wunders geworden sind – aber erinnern wir uns an Humes Argument. Was ist wahrscheinlicher: dass die Naturgesetze, die auf solider und unveränderlicher Erfahrung beruhen, verletzt wurden, oder dass wir Opfer einer Halluzination, einer Verschwörung mit einem Doppelgänger an der Stelle Jesu oder etwas anderem geworden sind, für das eine Erklärung innerhalb der “Naturgesetze” gefunden werden muss?

    Wem sollen wir glauben – der “festen und unveränderlichen Erfahrung”, dass die Toten nicht auferstehen, oder unseren abergläubischen und unaufgeklärten Augen? Wenn Humes Argument stichhaltig wäre, welche Art von “außergewöhnlichen Beweisen” könnte uns von der Realität des Übernatürlichen überzeugen? Absolut keine.

    Hume geht von einem impliziten Materialismus aus und schließt von “fester и unveränderlicher Erfahrung” sofort jeden Beweis о für das Übernatürliche aus. Wenn wir aber diese Weltanschauung vertreten, wird uns kein Beweis davon überzeugen, dass ein übernatürliches Eingreifen stattgefunden hat. Wir werden jede andere Erklärung als diese akzeptieren. Wenn wir die Möglichkeit übernatürlicher Phänomene prinzipiell akzeptieren, steht es uns frei, mit Berichten über solche Phänomene genauso umzugehen wie mit Berichten über alle anderen Phänomene. Natürlich kann es sich dabei um Lügen, Halluzinationen oder Gerüchte handeln. Genauso wie jeder Beweis für nicht übernatürliche Ereignisse falsch sein kann. Doch um das festzustellen, müssen wir zunächst die Beweise selbst untersuchen.

 

Wunder, an die wir selbst nicht glauben.

     Allerdings hat Hume noch ein weiteres Argument, das immer wieder in verschiedenen atheistischen Büchern zitiert (oder angedeutet) wird, auch in dem von Dawkins. Es gibt viele Berichte über Wunder, an die Christen nicht glauben, wie etwa die Berichte in den apokryphen Evangelien, dass das Jesuskind tönerne Vögel zum Leben erweckte, oder Berichte über Wunder in nichtchristlichen Religionen. Verschiedene Religionen benutzen Wunder, um ihre widersprüchlichen Lehren zu bestätigen, so dass Christen selbst Berichten über das Übernatürliche, wenn sie von Nichtchristen stammen, skeptisch gegenüberstehen. Verlangt die intellektuelle Redlichkeit nicht, dass alle Berichte über Wunder – ob christlich oder nichtchristlich – mit der gleichen Skepsis behandelt werden?

    Wo liegt der Fehler in dieser Argumentation? Es ist dieselbe vorgefasste Meinung, dass es keine Wunder gibt und dass es sich nicht lohnt, sich mit konkreten Wunderberichten zu befassen, weil sie ohnehin unmöglich sind.

    Wenn wir diese Haltung aufgeben, dann müssen Berichte über Wunder gesondert betrachtet und interpretiert werden. Manche Wunderberichte können falsch sein, nicht nur in nichtchristlicher, sondern auch in christlicher Umgebung. Kurz nach meiner Bekehrung las ich ein Handbuch zur Vorbereitung auf die Beichte, in dem neben anderen Sünden, in die man fallen kann, auch die “Verbreitung falscher Wundergeschichten” erwähnt wurde.

    Heute bemühen sich orthodoxe Priester, zum Beispiel ein so bekannter Missionar wie Pater Georgii Maximov, “fromme” Fälschungen zu entlarven. Die Existenz von gefälschten Wunderberichten widerlegt nicht die Existenz von echten Wundern und macht sie auch nicht unwahrscheinlicher. Es gibt viel mehr gefälschte als echte Diamanten auf der Welt, aber niemand käme auf die Idee zu behaupten, dass es keine echten Diamanten gibt. Im Gegenteil, die bloße Existenz von Fälschungen weist auf die Realität (und den hohen Wert) echter Diamanten hin.

     Der intellektuell ehrliche Ansatz wäre also, nicht alle Berichte über das Übernatürliche zu leugnen, sondern sie mit den gleichen Kriterien zu betrachten – und unter diesem Gesichtspunkt sind die Berichte über Wunder außerhalb der Kirche zu betrachten. Und wenn wir uns diese Berichte anschauen, dann ist die Annahme, dass alle Religionen vergleichbare Wunder vollbringen, schlicht falsch. Die neutestamentliche Geschichte, in der die Jünger eines brutal hingerichteten Lehrers darauf bestehen, dass er buchstäblich, physisch, leibhaftig von den Toten auferstanden ist, und bereit sind, für ihr Zeugnis zu leiden und zu sterben, hat keine vergleichbare Parallele.

    Natürlich hat es Versuche gegeben, solche Parallelen zu ziehen, aber bei näherer Betrachtung bleiben sie alle weit hinter dem Neuen Testament zurück. Dieses Thema – falsche Analogien und Parallelen – verdient eine gesonderte Betrachtung, doch zunächst sei darauf hingewiesen, dass der Gründer der zahlenmäßig zweitgrößten monotheistischen Religion, Mohammed, nicht einmal vorgab, Wunder zu vollbringen.

     Auch Nichtchristen berichten von Wundern kleineren Ausmaßes, es lohnt sich, diese Berichte gesondert zu betrachten. Sie können falsch sein, so wie es auch unter Christen falsche Wunderberichte geben kann. Als Christen können wir jedoch grundsätzlich auch außerhalb der Kirche echte übernatürliche Phänomene anerkennen. Sie können echte Manifestationen der barmherzigen Herablassung des wahren Gottes zu seinen Geschöpfen sein, was keineswegs bedeutet, dass die Gottesvorstellungen dieser Menschen wahr sind. In manchen Fällen können sie Ausdruck des Wirkens gefallener Geister sein, die – nach christlichem Weltbild – “falsche Wunder und Zeichen” vollbringen.

    Der christliche Glaube verlangt nicht, dass wir alle Berichte über das Übernatürliche außerhalb der Kirche für falsch halten – er setzt nur einen bestimmten Rahmen für die Interpretation dieser Berichte.

Zusammenfassend

     Humes Argument gegen Wunder – und darauf aufbauende Argumentationslinien wie die von Carl Sagan – weist also eine Reihe von fatalen Fehlern auf. Es ist zirkulär, d.h. es führt in seiner Prämisse genau die These ein, die es zu beweisen versucht. Das Argument geht in seinen Überlegungen, was wahrscheinlich ist und was nicht, bereits von den materialistischen Prämissen aus, die es beweisen soll. Es gibt eine falsche Definition dessen, was ein Wunder ist, zumindest ein Wunder im christlichen Sinne. Er verabsolutiert unser (notwendigerweise begrenztes) Wissen über die Welt. Das sind nicht alle seine Fehler, aber schon einer davon würde genügen, um ihn in die wohlverdiente Ruhe zu schicken.

     Dennoch wird es immer wieder zitiert, als sei es so kraftvoll und frisch wie im 18.Jahrhundert. Ihre Überzeugungskraft für die Menschen jener Zeit verdankte sie jedoch nur der Popularität des Deismus – der Vorstellung, dass Gott die Welt als perfekte Maschine geschaffen habe, in der übernatürliche Eingriffe fehl am Platz seien. Voltaire zum Beispiel (der kein Atheist war, wie manche Menschen manchmal sagen, sondern eben ein Deist) schrieb in seinem “Dictionnaire philosophique”: “Ein Wunder ist eine Verletzung der mathematischen, göttlichen, unveränderlichen und ewigen Gesetze; es ist also ein Widerspruch in sich. Man sagt dann, Gott könne diese Gesetze nach Seinem Willen außer Kraft setzen. Doch warum sollte Er eine Störung in der Funktionsweise dieser riesigen Maschine wünschen? Es wird gesagt, „um der Menschen willen“. Doch wäre es nicht eine absurde Extravaganz, sich einzubilden, dass das ewige Höchste Wesen um drei- oder vierhundert Ameisen auf diesem kleinen Stück Lehm willen den ganzen gewaltigen Mechanismus stören würde, der das Universum bewegt?“

    Heute glauben nur noch sehr wenige Menschen an den Deismus – die damit verbundene Überzeugung, dass es für Gott unangemessen wäre, Wunder zu vollbringen – und ohne die Unterstützung der intellektuellen Mode fällt Humes Argument in sich zusammen. Das hindert sie jedoch nicht daran, es immer wieder zu verkünden, als ob nichts geschehen wäre. Wir sollten allerdings darauf achten, dass ein so lange widerlegtes Argument eher zu einem Slogan als zu einem Argument wird.

III.

Dawkins und die Bibel: Das Alte Testament

      Dawkins’ Angriffe auf die Bibel in seinem neuen Buch “Outgrowing God: A Beginner’s Guide” wiederholen im Großen und Ganzen seine Argumente aus “God as an Illusion”, die ihrerseits eine lange Reihe antibiblischer Propaganda darstellen, die sich von Buch zu Buch und von Artikel zu Artikel fortsetzt. Bevor wir uns mit konkreten Beispielen befassen, wollen wir ein paar Worte über Dawkins’ (und seine Brüder) Umgang mit der Heiligen Schrift sagen.

Diese Herangehensweise ist keineswegs wissenschaftlich, sondern eher als “sektiererisch” oder “kultisch” zu bezeichnen. Wir sehen Sektenführer wie David Koresh oder Seko Asahara, die die Bibel zitieren. Was zeichnet ihren Ansatz aus? Sie haben bereits Ansichten, die in keiner Weise aus der Bibel stammen, die sie aber in den Köpfen ihrer Anhänger als biblisch verankern wollen, indem sie ihnen suggerieren, dass die Schrift ihre Behauptungen stützt. Wenn ein Gläubiger – und sei er noch so ungläubig – an die Bibel mit der Frage herangeht: “Was bedeutet diese Textsammlung für diejenigen, die sie als autoritativ akzeptieren”, oder vielleicht auch: “Was bedeuteten diese Texte für ihre Verfasser”, dann hat Dawkins keine Fragen an den Text, außer rhetorischen – alles ist ihm sofort und von vornherein klar.

Um Fragen stellen zu können, muss ich akzeptieren, dass ich etwas nicht oder vielleicht nicht richtig verstehe. Dawkins ist sich sicher, dass er alles richtig verstanden hat und dass er eine völlig korrekte Vorstellung davon hat, was die Bibel lehrt. Seiner Meinung nach muss sie menschenfeindlichen Unsinn lehren, und seine Lektüre ist ganz von dem Wunsch geleitet, diese vorgefasste These zu bestätigen. Die Bibel muss nicht mit Glauben gelesen werden, aber es ist wünschenswert, sie (wie jedes andere Buch) mit dem Wunsch zu lesen, sie zu verstehen, und nicht, ihr die eigenen, bereits akzeptierten Thesen zuzuschreiben.

   Hier ein Beispiel. Ich lese gerade ein Buch des berühmten Kosmologen Stephen Hawking, “Das Universum in einer Nussschale”. Ich habe keine Ahnung von Physik und höherer Mathematik, und die Ideen des Autors erscheinen mir oft unverständlich und – wenn ich sie zu verstehen glaube – unverschämt lächerlich. Dann über “imaginäre Zeit”, dann über “schweres Vakuum” …. Das ist Blödsinn.
Was brauche ich, um in meinem Verständnis dieser Arbeit voranzukommen? Glauben. Und ein wenig Demut. Ich muss glauben, dass der Autor kein Idiot ist und keinen Unsinn erzählt – im Gegenteil, er ist ein weltbekannter Wissenschaftler, der sehr gut weiß, worüber er schreibt. Ich muss definitiv (für mich – erhebliche) Anstrengungen unternehmen, um in seine Erzählung einzusteigen. Ich muss akzeptieren, dass ich mich mit dem Thema nicht auskenne, ich muss das zugeben und versuchen, meinen Wissensstand zu verbessern. Auf jeden Fall sollte ich es vermeiden, Hawkings Buch arrogant zu kritisieren, ohne mir die Mühe zu machen, zu verstehen, worüber er schreibt. Vielleicht ist nicht Hawking ein Dummkopf oder ein Betrüger. Vielleicht bin ich es, der etwas nicht versteht.
   Um zu verstehen, worum es in der Bibel geht, ist es nicht notwendig, persönlich an ihre Botschaft zu glauben, aber es ist wichtig, davon auszugehen, dass sie eine bedeutsame Botschaft enthält, und diese Botschaft ist, ob wir sie mögen oder nicht, das Herz der europäischen Kultur. Viele Generationen von Menschen haben die Bibel gelesen, sie mögen ihren Glauben nicht teilen, aber sie können versuchen, sie zu verstehen – was die Menschen in dieser Sammlung alter Texte gefunden haben, wie sie sie interpretiert haben. Vielleicht sind nicht die Christen die Dummen oder die Betrüger. Vielleicht ist es Dawkins, der etwas falsch verstanden hat.
In Outgrowing God wiederholt Dawkins dasselbe Argument wie in Gott als Illusion – ja, die Bibel, insbesondere die Lehren Jesu, enthalten einige gute und schöne Dinge über Nächstenliebe und so weiter. Aber die Bibel ist auch voll von “bösen” Passagen, wie dem Befehl, die Kanaaniter auszurotten. Christen wählen zwangsläufig aus, welche Worte der Heiligen Schrift für sie verbindlich sind und welche nicht, und – so Dawkins – sie lassen sich dabei von Kriterien leiten, die außerhalb der Bibel liegen, höchstwahrscheinlich vom moralischen Fortschritt, der sich (unabhängig von der Bibel) in unserer Zivilisation vollzieht. So schreibt Dawkins:
“Aber wie entscheiden wir, welche Verse wir ignorieren, weil sie böse sind, und welche wir predigen, weil sie gut sind? Die Antwort muss in einem anderen Kriterium liegen, nach dem wir entscheiden, was wir für böse und was wir für gut halten, und zwar aus Gründen, die nicht in der Bibel selbst zu finden sind. Aber in diesem Fall, was auch immer dieses Kriterium sein mag, warum sollten wir es nicht direkt anwenden?
    Wenn wir ein unabhängiges Kriterium dafür haben, welche Verse der Bibel wir für gut und welche wir für schlecht halten, wozu brauchen wir dann überhaupt die Bibel?
Mit anderen Worten: Dawkins glaubte 2006 und glaubt auch 2019 noch, dass die Bibel ein Zitatenbuch des Vorsitzenden Mao ist, in dem alle Fragmente gleich wichtig und gleich wertvoll sind, und dass Christen nur wegen des Einflusses Zeitalter der Aufklärung das Gesetz des Alten Testaments nicht befolgen. Und offenbar haben sie Angst vor dem Haager Tribunal, vor dem laut Dawkins viele Helden des Alten Testaments mit Sicherheit fallen würden.
    Er ist nicht der Einzige, das ist unter militanten Atheisten gang und gäbe. Ich selbst wurde in einer Online-Diskussion gefragt, warum ich Menschen, die am Sabbat arbeiten, nicht steinige – was impliziert, dass ich dies nur aus Angst vor Polizei und Gerichten unterlasse. In der Bibel steht: “Haltet den Sabbat, denn er ist euch heilig; wer ihn entweiht, soll des Todes sterben” (2. Mose 31,14), Sie selbst behaupten, die Bibel sei Gottes Wort – warum sabotieren Sie Gottes Gebot?
    Natürlich könnte jeder gebildete Christ Dawkins in zehn Minuten erklären, dass das Interpretationskriterium für Christen die Bibel ist – ihr Zeugnis von Jesus Christus, in dem wir Gott begegnen. Wie der Apostel Johannes sagt: “Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen” (Johannes 20,31). Die Bibel hat eine Handlung, die sich im Laufe der Zeit entwickelt, einzelne Verse und Bücher werden innerhalb dieser Handlung gelesen, die Geschichte der Offenbarung durchläuft verschiedene Phasen und erreicht ihren Höhepunkt in Jesus Christus.
   Die Rechts- und Zeremonialnormen des Alten Testaments gelten für uns nicht, weil wir nicht Untertanen des alten israelitischen Reiches sind. Wie überhaupt das alttestamentliche Gesetz in seiner rechtlichen und zeremoniellen Dimension eine vorbereitende und erzieherische Funktion für das wichtigste Ereignis der biblischen Geschichte – das Kommen und Erlösungswerk Christi – erfüllt. Paulus schreibt: “Darum war das Gesetz für uns ein Wegweiser zu Christus, damit wir durch den Glauben gerechtfertigt würden; nun aber, da der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter einem Wegweiser” (Gal 3,24.25). Wir ignorieren nicht bestimmte Bibelverse – wir stellen sie einfach in den Gesamtzusammenhang der Schrift, wo sie Sinn machen. Dieser einfache Gedanke entzieht sich jedoch seit Jahren dem Verständnis der Bibelkritiker – und seit Jahrzehnten und Jahrhunderten, wenn wir von der atheistischen Bewegung insgesamt sprechen.
   Es geht nicht darum, dass sie es nicht verstehen können, sondern dass sie es nicht verstehen wollen. Das ist die grundlegendste Unkenntnis des Themas, mit der sich Dawkins offen brüstet. Aber schauen wir uns die konkreten Bibelstellen an, die Dawkins kritisiert.

Abrahams Opfer

   An die (vermutlich jungen) Leser seines Buches gewandt schreibt Dawkins: “Gott hat deinem Vater befohlen, dich zu töten und als Brandopfer zu opfern. Aber es stellte sich heraus, dass es nur ein Scherz war, um die Treue deines Vaters zu Gott zu testen. Dein Vater musste beweisen, dass er Gott so sehr liebt, dass er dich sogar töten würde, wenn Gott es ihm befiehlt. Er musste beweisen, dass er Gott mehr liebte als sein geliebtes Kind. Als Gott sah, dass dein Vater wirklich, wirklich dazu bereit war, griff er gerade noch rechtzeitig ein. Hab ich dich! Ein Aprilscherz! Das war nicht so gemeint! Das ist doch ein toller Scherz, oder?
… Wenn so etwas in unserer Zeit passieren würde, würde Abraham für seine schreckliche Grausamkeit gegenüber seinem Kind ins Gefängnis kommen”.
   Man beachte, dass Dawkins Wahrnehmung dieser biblischen Geschichte in den Jahren seit der Veröffentlichung von Gott als Illusion in keiner Weise bereichert wurde. Richtig, erinnert er sich, “die offizielle Interpretation, die in den Sonntagsschulen gelehrt wird, besagt, dass das plötzliche Erscheinen des Lammes Gottes Weg war, den Menschen zu sagen, dass sie keine Menschenopfer, sondern Tieropfer darbringen sollten”.
   Ja, die Geschichte Abrahams ist unter anderem die Geschichte, wie Gott das Menschenopfer ablehnt und durch das Tieropfer ersetzt. Die Antwort auf die Frage: “Warum opfern wir nicht Menschen wie andere Völker?” Für die Menschen der Antike, in denen das Vorurteilsdenken stark ausgeprägt war, lag die Antwort auf die Frage „Warum opfern wir nicht Menschen wie andere Völker?“ gerade in der Befreiung Isaaks. Denn Gott akzeptierte Abrahams Treue und segnete ihn, ersetzte aber Isaak durch ein Lamm.
Aber diese Erklärung befriedigt Dawkins nicht. Er schreibt: “Aber die Figur des Gottes in dieser Geschichte spricht ständig zu den Menschen …. Warum hat er ihnen nicht einfach gesagt, dass sie Schafe und nicht Menschen opfern sollen? Warum war es notwendig, Isaak diese schreckliche Prüfung aufzuerlegen?
    Man beachte, dass bei Dawkins und anderen atheistischen Autoren immer wieder eine Substitution stattfindet. Dawkins lehnt die naheliegende Interpretation ab, dass die Sonntagsschule – “es ist insbesondere die Abschaffung der Menschenopfer” – und bietet seine eigene an: “es ist ein grausamer Scherz”.
Aber wessen Glauben kritisiert Dawkins? Stellen wir uns eine Art Sekte vor, deren Anhänger glauben, dass grausame Scherze und Streiche für Gott akzeptabel sind, und die sich auf eine Dawkins’-Artige Interpretation der Geschichte von der Opferung Isaacs beruft.
    Wäre die Kritik an dieser Sekte eine Kritik am Christentum? Natürlich nicht, diese Sekte hätte nichts mit dem historischen Christentum zu tun. Die exegetischen Probleme dieser Sekte wären nicht im geringsten die Probleme der Christen.
Aber das ist die Situation, in der wir uns befinden – wenn die Vorchristen die ganze Geschichte als einen grausamen Witz interpretieren, dann ist das ihr Problem, nicht das Problem der Christen, nicht das Problem der Bibel.
Die rhetorischen Fragen, die Dawkins stellt, weisen auf dasselbe erstaunliche Unverständnis der Antworten hin, die er zweifellos im Laufe der Jahre erhalten hat.
“Und wenn man sagt, dass Gott alles weiß, dann hätte er im Voraus wissen können, wie sich Abraham angesichts dieser Prüfung verhalten würde.
    Natürlich stellt Gott Abraham auf die Probe, nicht um etwas zu lernen, was er nicht weiß, sondern aus einer Reihe von Gründen, die wiederum jeder gebildete Christ Dawkins in zehn Minuten erklären könnte – wenn er nur zuhören würde. Gott ermöglicht es Abraham, absolute Treue zu zeigen und seine Verheißungen zu empfangen – für sich selbst und für seine Nachkommen. Gott schafft, wie gesagt, einen Präzedenzfall für die Abschaffung des Menschenopfers, der in der damaligen Kultur verständlich und überzeugend gewesen wäre. Gott weist – und das ist sehr wichtig und scheint Dawkins unbekannt zu sein – prophetisch auf das kommende Opfer Christi hin, ein Opfer, das Gott selbst für die Erlösung des Menschengeschlechts sehen würde.
   Eine weitere alttestamentliche Episode, auf die Dawkins aufmerksam macht, ist die Opferung seiner Tochter durch den alttestamentlichen Helden Jephthah. Die Ausleger sind sich nicht einig, ob das Mädchen buchstäblich als Opfer getötet wurde oder ob es Gott geweiht war und nicht heiraten durfte. Im biblischen Text heißt es: “Und nach zwei Monaten kam sie zurück zu ihrem Vater. Und er tat ihr, wie er gelobt hatte, und sie hatte nie einen Mann erkannt.” (Richter 11,39). Dawkins geht davon aus, dass sie gerade als Opfer geschlachtet wurde, und ärgert sich darüber, dass Gott dies im Gegensatz zu Isaak nicht verhindert hat.
    Nun, wenn es tatsächlich um Opfer geht, dann hat Gott zu seinem Volk gesprochen – und er musste sehr eindringlich sprechen -, um die Praxis der Menschenopfer auszurotten. Besonders deutlich wird dies in der folgenden Episode, auf die sich Dawkins konzentriert.

Die Ausrottung der Kanaaniter

     Dawkins vergleicht (wie schon in seinem letzten Buch) Josua mit Hitler und die Eroberung des Gelobten Landes mit dem Völkermord der Nazis. Er glaubt jedoch nicht an die Historizität dieser Eroberung und schwadroniert daher über etwas, das er für Fiktion hält. Jedenfalls ist das Buch Josua ein Manifest militanter Intoleranz, das auf den modernen Leser einen harten Eindruck macht. Die Hitler-Analogie ist jedoch nur ein weiteres Beispiel für die Art von unbelegten Analogien, die in der Rhetorik von Dawkins (und der neuen Atheisten im Allgemeinen) üblich sind.
    Zunächst spricht Dawkins im Kapitel “Wie entscheiden wir, was gut ist? (spricht Dawkins selbst von moralischem Fortschritt – im 19. Jahrhundert machten angesehene Männer wie Abraham Lincoln grobe rassistische Äußerungen, die heute ihre Karriere sofort zerstören würden. Und etwas früher hielten Menschen – insbesondere, wie Dawkins einräumt, seine eigenen Vorfahren – Sklaven und hielten dies für normal. Dawkins fordert uns auf, die Menschen der Vergangenheit nicht nach heutigen Maßstäben zu beurteilen – und wir können ihm teilweise zustimmen. Jahrhundert, sondern auch für die Menschen der frühen Eisenzeit – es ist etwas seltsam, an sie die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die heute lebenden Menschen.
    Aus irgendeinem Grund weigert sich Dawkins hartnäckig, den Zeitkontext zu berücksichtigen, wenn es um seine Vorfahren geht, die Sklaven waren, während er dies bei den biblischen Helden nicht tut. Er fordert den modernen Teenager auf, sich in Isaak hineinzuversetzen, und vergisst dabei, dass dies schlicht unmöglich ist, weil der kulturelle Unterschied zu groß ist. Und mit der gleichen Leichtigkeit vergleicht er Menschen, die gerade dem Heidentum, der Wildheit und der Barbarei entronnen sind, mit Menschen, die nach Jahrhunderten glänzender christlicher Kultur in die Abgründe des Heidentums versunken sind.
    Selbst von einem rein säkularen Standpunkt aus ist ein Vergleich zwischen Josua und Hitler ebenso wenig möglich wie ein Vergleich zwischen Pharao und Churchill – es handelt sich um völlig unterschiedliche Menschen, die in völlig unterschiedlichen Kontexten agierten und völlig unterschiedlichen Kulturen angehörten. Hitler agierte in einer fast zweitausend Jahre alten christlichen Zivilisation. Er kam in eine Welt, in der die Wahrheiten, dass der Mensch (gleich welcher ethnischen Herkunft) nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, dass der Friedensstifter und der Barmherzige gesegnet sind, nicht nur gepredigt wurden, sondern bis zu einem gewissen Grad auch in die deutsche Kultur eingegangen waren. Die Nationalsozialisten waren sich dieser Wahrheit sehr wohl bewusst und lehnten sie bewusst ab zugunsten wissenschaftlicher (wir werden jetzt sagen: pseudowissenschaftlicher, aber das wussten sie noch nicht) Theorien der rassischen Überlegenheit. Rudolf Hess sagte, der Nationalsozialismus sei angewandte Biologie, und es fällt schwer, in dieser Bewegung nicht den spektakulären Sieg der Biologie (wie sie damals verstanden wurde) über die Theologie zu sehen.
    Josua wuchs in einer völlig anderen Welt auf, in der Menschenopfer völlig normal waren und die Bergpredigt noch Jahrhunderte entfernt war. Er war kein Christ – und konnte es auch nicht sein – und er entsprach auch nicht unseren Vorstellungen von Höflichkeit und Menschlichkeit. Auch in den anderen Erzählungen des Alten Testaments sind Männer mit äußerst groben Umgangsformen am Werk. Hätte Gott nicht ein paar nettere Menschen finden können? Nein. Gott ist nicht gekommen, um Feen und Elfen zu retten. Er kommt, um dieses spezielle – tief gefallene – Volk zu retten. Er hat einfach keine anderen Menschen. Vom Gipfel der christlichen Zivilisation aus mögen wir über ihre Rohheit entsetzt sein, aber wir sind nur deshalb auf diesem Gipfel, weil Gott sich um diese Menschen gekümmert hat.
    Es ist sinnlos, Josua mit Hitler zu vergleichen – selbst von einem rein säkularen Standpunkt aus. Genauso wie es sinnlos ist, Hitlers Opfer mit den Kanaanitern zu vergleichen. Wenn wir moderne Analogien ziehen wollen, können wir an moderne Kulte denken, die mit Menschenopfern verbunden sind.
   Heutzutage sind wir intolerant gegenüber solchen Praktiken – Fälle von Menschenopfern in Indien, Afrika, Nepal, in Einwanderergemeinschaften in Europa werden von der Polizei verfolgt. In Uganda sind Hunderte von Kindern Opfer von Priestern geworden, wie die BBC berichtet, und die Polizei wird heftig kritisiert, weil sie nicht genug gegen diese Geißel unternimmt.
Niemand denkt, dass solche Sekten toleriert werden können – im Gegenteil, die Polizei zerschlägt solche Gemeinschaften und sperrt ihre Mitglieder ein. Natürlich handelt niemand mit der Strenge Josuas – wir sind andere Menschen und leben in anderen Umständen. Aber wir sind nicht bereit, das um uns herum zu tolerieren.
     Glücklicherweise haben wir eine überwältigende Überlegenheit gegenüber allen Kultisten, die Menschenopfer praktizieren – sowohl rein gewaltsam als auch ideologisch. Wir müssen (zumindest derzeit) nicht befürchten, dass solche Kulte dominant und offiziell werden, wie es bei den Nachbarn Israels in der Antike der Fall war. Es gibt keine Massenbekehrungen zu solchen Kulten – sie sind eine winzige, in den Untergrund gedrängte Minderheit.
    Zur Zeit Josuas (und noch lange danach) war die Situation anders. Vorherrschend war das Heidentum mit Kinderopfern für Götzen. Dass man so etwas nicht tun sollte, war ein neuer und schwer zu ertragendem Gedanken. Die Propheten des Alten Testaments mussten sich sehr anstrengen, um das Volk Gottes davor zu bewahren, sich von dieser Praxis verführen zu lassen. Wie der Psalmist über die abtrünnigen Israeliten sagt, haben sie “unschuldiges Blut vergossen, das Blut ihrer Söhne und Töchter, die sie den Götzen Kanaans geopfert haben, und das Land wurde mit Blut besudelt” (Psalm 105,38).
    Es ist für uns heute schwer vorstellbar, aber das Verbrennen von Kindern als Götzenopfer war bei den Heiden üblich, und die Israeliten beteiligten sich daran – auch noch lange nach Josua. Der Prophet sagt: “Denn die Söhne Judas tun Böses vor meinen Augen, spricht der Herr; sie haben ihre Gräuel aufgerichtet in dem Haus, über dem mein Name genannt ist, um es zu verunreinigen, und sie haben die Höhen von Tophet aufgerichtet im Tal der Söhne Tophets, um ihre Söhne zu verunreinigen.
Enomow, um ihre Söhne und Töchter im Feuer zu verbrennen, was ich nicht befohlen habe und was mir nicht in den Sinn gekommen ist” (Jer 7,30.31).
    Aber die totale Vernichtung der Kanaaniter, wie sie im Buch Josua beschrieben wird, schockiert uns. Es ist wichtig, dass wir nach zweitausend Jahren Christentum sorgfältig zwischen persönlich Schuldigen und Unschuldigen unterscheiden. In unserer Welt ist das in der Praxis bei weitem nicht immer der Fall, aber in der Theorie haben wir es gut gelernt.
Aber in der antiken Welt wurde der Einzelne als Teil eines Stammes gesehen – im Alten Testament sind Segen und Fluch kollektiv (d.h. das ganze Volk betreffend) und stammesbezogen. Deshalb beschreibt das Buch Josua den Fluch und die Zerstörung, die über die Kanaaniter hereinbrachen, als etwas Totales, das ihre gesamte Zivilisation verschlang. Die Bedeutung der Erzählung ist klar genug: Kinder als Götzenopfer zu verbrennen, ist in den Augen Gottes ein Gräuel, und das Volk, das dies tut, wird verflucht und von der Erde vertilgt werden.
     Die Aussagen (oder Ereignisse) der Bibel aus dem Kontext dieses Prozesses herauszulösen, bedeutet ein grobes Missverständnis des Textes. Was im Falle von Dawkins und Konsorten leider nicht Unwissenheit ist, sondern ein grundsätzlicher Unwille zu zu verstehen.

Die Bibel ist keine Sammlung von Zitaten

     Im Alten Testament sehen wir also einen langen, sehr schwierigen, von Misserfolgen und Niederlagen geprägten Prozess, in dem das Volk Gottes in der Erkenntnis Gottes wächst. Es ist nicht die Geschichte perfekter Menschen, die unter perfekten Umständen perfekte Dinge tun. Es ist die Geschichte realer, lebendiger, sündiger Menschen, die Kulturen angehören, die tief von der Sünde durchdrungen sind, und die gerade erst beginnen, unter Gottes Führung aus der Finsternis, in der sie sich befinden, herauszukommen.
   Natürlich ist das Gottesverständnis der Menschen im Buch Josua oder etwa im Buch der Richter ein ganz anderes als das Gottesverständnis des Apostels Johannes. Die göttliche Offenbarung ist kein einmaliges Ereignis, bei dem ein vorgefertigter biblischer Text vom Himmel fällt. Sie ist ein langer Prozess, der verschiedene Phasen durchläuft und in der Person und den Heilstaten unseres Herrn Jesus Christus gipfelt. Biblische Aussagen (oder Ereignisse) aus dem Kontext dieses Prozesses herauszulösen, ist ein grobes Missverständnis des Textes. Bei Dawkins und seinen Mitstreitern handelt es sich nicht um Unwissenheit, sondern um eine grundsätzliche Verweigerungshaltung.

IV.

Dawkins und die Bibel: Das Neue Testament

      Richard Dawkins’ Kritik an der Bibel (und er ist in dieser Hinsicht ein Wiederholer des bereits etablierten atheistischen Kanons) verrät den bereits erwähnten Ansatz, ein Thema zu kritisieren, sich aber prinzipiell zu verweigern. Dies wird in Dawkins’ Haltung zum Neuen Testament ebenso deutlich wie in seiner Haltung zum Alten Testament. Aber schauen wir uns das genauer an.


Der Fluch des Feigenbaums

     Dawkins schreibt: “Die kanonischen Evangelien von Matthäus und Markus berichten, wie er sich nicht an irgendetwas rächte, sondern an einem Feigenbaum: Früh am Morgen, als er in die Stadt zurückkehrte, war er hungrig. Als er einen Feigenbaum am Wegrand sah, ging er darauf zu, fand aber nur Blätter. Da sagte er zu ihm: “Du sollst für immer keine Frucht bringen” (Matthäus 21,18).
     Die Geschichte vom unfruchtbaren Feigenbaum ist wahrscheinlich die Lieblingsstelle der Atheisten im Evangelium. Als ich ein Kind war, las ich bei Bertrand Russell, dass dies eine Manifestation des Zorns Christi sei, was der christlichen Lehre von seiner Sündlosigkeit widerspreche. Doch worum geht es in dieser Geschichte wirklich? Jeder, der die Bücher der Propheten gelesen hat, kann erkennen, worum es in dieser Geschichte geht: Die Pflanzen, die Frucht bringen sollten, es aber nicht tun, sind das Volk Gottes und insbesondere seine Führer. Der Prophet sagt: “Der Weinberg des Herrn der Heerscharen ist das Haus Israel, und die Männer Judas sind seine Lieblingspflanze. Er wartete auf Gerechtigkeit, und siehe, da war Blutvergießen; er wartete auf Gerechtigkeit, und siehe, da war Geschrei” (Jesaja 5,7).
     Johannes der Täufer vergleicht die Sünder mit Bäumen, die abgehauen werden, wenn sie nicht die Frucht der Umkehr bringen: “Schon liegt die Axt an den Wurzeln der Bäume; jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen” (Mt 3,10). Der Gerechte wird dagegen mit einem fruchtbaren Baum verglichen. “Denn er wird sein wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist und an Bächen seine Wurzeln schlägt; er weiß nicht, wann die Hitze kommt; sein Laub bleibt grün, und in der Dürre fürchtet er sich nicht und hört nicht auf, Früchte zu bringen” (Jer 17,8). Der Vergleich von Menschen und Völkern mit Bäumen findet sich häufig bei den Propheten, so etwa bei Hesekiel: “Und alle Bäume auf dem Felde sollen wissen, dass ich, der Herr, den hohen Baum niedrig mache und den niedrigen hoch; dass ich den grünen Baum verdorren lasse und den dürren blühen lasse; ich, der Herr, habe es gesagt und werde es tun” (Hesekiel 17,24).
     Der Fluch des unfruchtbaren Feigenbaums ist also ein prophetisches Zeichen, das für die Zeitgenossen Jesu mehr als verständlich war, ebenso wie seine Gleichnisse, in denen der Herr die Führer des Volkes als untreue Weingärtner anprangert.
Gibt es da etwas Schwieriges? Für jemanden, der mit der Bibel nicht vertraut ist, vielleicht, und generell ist es sehr schwierig, etwas zu verstehen, ohne den kulturellen Kontext zu kennen. Aber dieses Problem ist leicht zu lösen – Russell könnte mit jedem christlichen Pfarrer sprechen, Dawkins braucht das nicht – es reicht, sich im Internet zu informieren.
     Das Problem liegt nicht in der Unzugänglichkeit des Wissens, sondern in der mangelnden Bereitschaft, es aufzunehmen. Um die Bibel zu verstehen, muss man sie, wie jedes andere Buch auch, verstehen wollen. Nicht unbedingt, um zu glauben, aber zumindest, um sie als ein grandioses Epos zu schätzen, in dem sich die Geschichte von Anfang bis Ende wie ein Drama entwickelt, in dem sich jedes Detail in jedem anderen widerspiegelt.
    Die Feindseligkeit gegenüber einem Text erlaubt es nicht, ihn zu verstehen – zumindest ist eine neutrale Distanz erforderlich, so wie man vielleicht die Denkmäler einer längst untergegangenen Zivilisation studiert.


Warum lehnen wir die Apokryphen ab?

    Dawkins verweist auf die Apokryphen – von der Kirche verworfene Berichte über das Leben Jesu – und fragt rhetorisch: “Glaubt denn niemand, dass die fantastischen Wunder in den Apokryphen enthalten sind? “Glaubt denn niemand, dass die phantastischen Wunder des “Kindheitsevangeliums” oder des “Thomasevangeliums” wirklich geschehen sind? Jesus verwandelte weder Lehm in Spatzen, noch tötete er den Jungen, der ihn schubste, noch verlängerte er in einer Schreinerwerkstatt ein Brett. Warum glauben die Menschen dann an die ebenso unglaubwürdigen Wunder, die in den offiziellen, kanonischen Evangelien beschrieben werden: die Verwandlung von Wasser in Wein, das Gehen auf dem Wasser, die Auferstehung von den Toten?
    Hätten sie an das “Wunder der Spatzen” und das “Wunder der Verlängerung des Brettes” geglaubt, wenn das “Evangelium der Kindheit” in den Kanon aufgenommen worden wäre? Wenn nicht, warum nicht? Was ist so besonders an den vier Evangelien, die das “Glück” hatten, in den Kanon aufgenommen zu werden? Warum eine solche Doppelmoral? Eine der Fragen, die Dawkins hier aufwirft – warum wir an manche Wunder glauben und an andere nicht – haben wir bereits diskutiert, als wir über Wunder im Allgemeinen sprachen. Kurz gesagt: In einem Weltbild, das Wunder prinzipiell zulässt, gehen wir davon aus, dass Berichte über Wunder wahr oder falsch sein können – wie Berichte über alle anderen Ereignisse auch. Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Berichte in den apokryphen Evangelien falsch sind, und wir werden sie nun im Einzelnen untersuchen.
    Warum also wurden einige Texte in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen und andere nicht? Ähnlich könnte man fragen: Warum wurde zum Beispiel das Gedicht “Poltawa” in das Gesamtwerk von Alexander Puschkin aufgenommen, ein so schönes Gedicht wie “Borodino” aber nicht? Was ist so besonders an “Poltawa”, dass es das Glück hatte, vom Herausgeber für die Sammlung ausgewählt zu werden? Warum diese Doppelmoral?
   Man wird uns natürlich antworten: Weil “Poltawa” von Puschkin geschrieben wurde, “Borodino” aber nicht, und trotz einiger Überschneidungen und ähnlicher Details von einem anderen Autor stammt, was dem Herausgebergremium sehr wohl bekannt ist.
Die apostolischen Schriften zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus dem Kreis der Apostel stammen, der engsten Jünger des Herrn, “Augenzeugen und Diener des Wortes” (Lk 1,2). Die Apokryphen sind später und in einem Umfeld entstanden, dessen Verbindungen zu den Aposteln, wenn überhaupt, nur indirekt nachvollziehbar sind. Darüber hinaus bestätigen moderne Wissenschaftler, die sich diesen Texten mit ihren eigenen Kriterien nähern, letztlich die Position der Kirche: Die Apokryphen sind viel spätere Dokumente, die teils den Stoff der kanonischen Evangelien nacherzählen, teils etwas Eigenes spekulieren.
    Das Kindheitsevangelium des Thomas zum Beispiel, das Dawkins hier diskutiert, wird in der Forschung auf Mitte bis Ende des 2. Jahrhunderts datiert, also viel später als die kanonischen Evangelien. Häusliche Details machen deutlich, dass sich der Autor das wirkliche Leben in einem palästinensischen Dorf nicht vorgestellt hat. Irina Sventsitskaya stellt fest: “Den Autor interessierte nicht, ob die galiläischen Jungen Vögel aus Ton formten, ob sie mit dem griechischen Alphabet zur Schule gingen, ob sie griechische Namen trugen. Er schrieb für griechischsprachige Leser, die diese Dinge auch nicht kannten”.
    Der Charakter der Wunder – wie auch der Charakter Jesu selbst – unterscheidet sich im “Kindheitsevangelium” und in den kanonischen Evangelien. Die Wunder der kanonischen Texte sind Wunder der Barmherzigkeit: Jesus heilt Kranke, öffnet Blinden die Augen, befreit von Dämonen Besessene, weckt Tote auf, speist Hungrige. In “Das Kindheitsevangelium” werden ihm Wunder zugeschrieben, die er aus eitler Prahlerei vollbracht hat, und manche sind einfach nur böse, wie es im Text heißt: “Danach ging er (Jesus) wieder durch die Siedlung, und ein Knabe lief auf ihn zu und stieß ihn in die Schulter. Jesus wurde zornig und sagte zu ihm: ‘Du gehst nirgendwohin’, und das Kind fiel sofort hin und starb.” Oder an anderer Stelle: “Und Josef rief den Knaben und schalt ihn und sprach: Warum tust du Dinge, die die Menschen leiden lassen und die uns hassen und verfolgen? Jesus aber sprach: Ich weiß, was du sagst; nicht ihre Worte, sondern um euretwillen will ich schweigen; sie aber müssen bestraft werden. Und alsbald wurden die geblendet, die ihn verklagten.
    Es sei auch darauf hingewiesen, dass der Kanon des Neuen Testaments viel früher als 325 entstanden ist – die älteste der erhaltenen Listen, der sogenannte Muratori-Kanon, enthält bereits die vier kanonischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) und andere uns bekannte neutestamentliche Texte, die spätestens 170 n. Chr. geschrieben wurden.
Wir haben also durchaus rationale und nachvollziehbare Gründe, das “Kindheitsevangelium” und andere apokryphe Quellen nicht als zuverlässige Quellen über das Leben des Herrn Jesus zu akzeptieren.


Judas und der Plan Gottes

    Dawkins schreibt: “Seit Jahrhunderten steht der Name Judas für Verrat. Aber, so haben wir gefragt, ist das gerecht? Es war Gottes Plan, dass Jesus gekreuzigt werden sollte, und dazu musste er verhaftet werden. Der Verrat des Judas war notwendig, um diesen Plan zu erfüllen. Warum hassen Christen traditionell den Namen Judas? Er hat einfach seine Rolle in Gottes Plan zur Rettung der Menschheit gespielt.
    Selbst auf einer profanen, nicht-theologischen Ebene erkennen wir, dass Menschen in erster Linie für ihre Absichten verantwortlich sind. Stellen wir uns einen Auftragskiller der Mafia vor, der den Anführer einer rivalisierenden kriminellen Gruppe erschossen hat. Stellen wir uns vor, dass dieser Anführer ein monströser Schurke war, der von den Behörden nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte, weil er alle Zeugen getötet hatte. Objektiv gesehen hat der Auftragsmörder der Öffentlichkeit einen Dienst erwiesen, indem er diesen schrecklichen Schurken aus dem Weg geräumt hat. Wird er dafür geehrt? Nein, er wird wegen Mordes bestraft, weil es ihm nicht darum ging, gesetzestreue Bürger zu schützen. Er wollte mit kriminellen Mitteln Geld verdienen, um seinen Stolz und seine Mordlust zu befriedigen, und dafür gibt es nichts zu belohnen, auch wenn sein Verbrechen der Gesellschaft zugute kam.
    Judas hatte nicht die Absicht, Gottes Plan zur Rettung der Welt zu erfüllen – er wollte einfach Geld verdienen, indem er seinen Meister verriet. Er ist für seine Absicht verantwortlich, nicht für das, was Gottes Vorsehung aus den Folgen seines Handelns gemacht hat. Die Guten dienen Gott aus freiem Willen, die Bösen widersetzen sich ihm, und jeder ist für seine Entscheidungen verantwortlich. Gott weiß in seiner Allwissenheit, wer was tun wird – er weiß, dass Judas Christus verraten, verzweifeln und sich für dreißig Silberlinge erhängen wird, und dass Petrus ihn dreimal verleugnen, dann aber bereuen und gerettet werden wird. Gott berücksichtigt dieses Wissen in seinem Plan, der nicht durchkreuzt werden kann. Alle Handlungen der Menschen dienen daher der Erfüllung seines Planes.
     So sagen die Apostel angesichts der Verfolgung im Gebet zu Gott: “Als sie es hörten, erhoben sie einmütig ihre Stimme zu Gott und sprachen: Herr, Gott, der du Himmel und Erde und das Meer gemacht hast und alles, was darinnen ist. Durch den Mund Davids, unseres Vaters, deines Knechtes, hast du durch den Heiligen Geist gesprochen: ‘Warum rebellieren die Heiden, und die Völker schmieden umsonst Pläne? Die Könige auf Erden haben sich erhoben, und die Fürsten haben sich gegen den Herrn und seinen Christus versammelt. Denn Herodes und Pontius Pilatus samt den Heiden und dem Volk Israel haben sich in dieser Stadt versammelt gegen deinen heiligen Sohn Jesus, den du gesalbt hast, zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss vorherbestimmt haben” (Apg 4,24-28).
    Gott ist nicht der Urheber des menschlichen Handelns – der Mensch tut es aus freiem Willen, aber Gott bezieht es in seinen Plan ein, so dass es zu den Ergebnissen führt, die er vorherbestimmt hat. Der Mensch ist natürlich nicht für die Vorsehung Gottes verantwortlich, sondern für seine eigenen Absichten und Entscheidungen.

Hatte der Holocaust christliche Wurzeln?

     Dawkins wiederholt die in bestimmten Kreisen verbreitete These, dass der Holocaust – die Massenvernichtung der Juden durch die Nazis und ihre Kollaborateure während des Zweiten Weltkriegs – durch das Erbe des christlichen Antisemitismus verursacht wurde, der seinerseits durch den christlichen Glauben an die Gottheit Jesu verursacht wurde, wofür die Juden des “Gottesmordes” beschuldigt wurden.
    Dawkins schreibt: “Selbst wenn Hitler in Wirklichkeit kein aufrichtiger Christ war, fanden seine Reden ein dankbares Publikum in einer deutschen Bevölkerung, die durch Jahrhunderte katholischen und lutherischen Judenhasses aufgeheizt war.
Wir können uns darauf einigen, dass die Nazis Martin Luthers Text Von den Juden und ihren Lügen bereitwillig in ihrer antisemitischen Propaganda verwendeten. Nachdem sich Luthers Hoffnungen auf eine baldige Bekehrung der Juden zu seiner Version des Christentums zerschlagen hatten, kam es in der Tat zu äußerst heftigen Angriffen auf die Juden. Polemik (auch religiöse Polemik) war damals allgemein unhöflich, und Luther selbst war, selbst für seine Zeit, äußerst unhöflich und überzog seine Gegner – Katholiken, Vertreter des Protestantismus und Juden, die nicht mit ihm übereinstimmten – mit Drohungen und Beschimpfungen, die heutigen Lutheranern peinlich sind. Aber liegen hier die Wurzeln des Holocaust? Nein, und vor allem in den Worten von Dawkins sind solche Vorwürfe ein klassisches Kopfschütteln.
    Wie erklärten die Nazis selbst ihren Antisemitismus? Haben sie die Juden des “Gottesmordes” beschuldigt, haben sie in Anlehnung an Luther religiöse Intoleranz gegenüber dem Judentum gezeigt? Nichts dergleichen. Sie waren überhaupt nicht an religiösen Opfern interessiert. Ihr Antisemitismus war biologisch – sie glaubten, die Juden seien eine biologisch feindliche “Ethnie”. “Selbst wenn eine Person jüdischer Abstammung ein christlicher Priester oder Bischof war, änderte dies nichts an der Entschlossenheit der Nazis, sie zu vernichten.
     Wir können nach einigen indirekten Einflüssen suchen, aber wenn wir die direktesten Wurzeln des Nationalsozialismus betrachten, dann waren diese Wurzeln – in den Augen der Nazis selbst – wissenschaftlicher und biologischer Natur. Der Nationalsozialismus ist angewandte Biologie, wie Rudolf Heß sagte, und die Nazis haben ihn nie als “angewandtes Christentum” betrachtet. Die Nazis beriefen sich auf die Evolutionsbiologie und trieben mit ihren Rassenkonstruktionen die damals in der Wissenschaft allgemein akzeptierten Vorstellungen über die Ungleichheit der Ethnien und die Zweckmäßigkeit der Eugenik (künstliche Auslese unter den Menschen) auf die Spitze. In den USA und einigen westeuropäischen Ländern gab es Gesetze zur Rassenhygiene, und die Sterilisation von Menschen mit “schlechtem Erbgut” war eine gesellschaftlich akzeptierte und aktiv geförderte Praxis. Allein in den USA wurden etwa 60.000 Menschen zwangssterilisiert.
    Die Nationalsozialisten trieben diese Fortschritte der Biowissenschaften nur auf die logische Spitze – den Völkermord. Im Allgemeinen verhielten sie sich als ideale, bewusste Teilnehmer am Evolutionsprozess – was lag näher als innerartliche Aggression zur Erweiterung des Lebensraumes? Das gilt auch für Vögel und Schmetterlinge. Nach der Niederlage der Nazis kamen Rassentheorie und Eugenik aus der Mode. Natürlich lehnen Dawkins und andere moderne Biologen diese Theorie und – vielleicht weniger einhellig – die Eugenik kategorisch ab. Wir können ihnen sicher nicht vorwerfen, dass sie an diesen längst kompromittierten Ansichten festhalten. Was wir Dawkins jedoch vorwerfen können, ist seine Unfähigkeit, das Offensichtliche zu erkennen. Der Antisemitismus der Nazis hatte nichts mit Religion zu tun. Er hatte eine wissenschaftliche Basis. Wir werden jetzt natürlich “pseudowissenschaftlich” sagen. Aber, wie die Stimme aus dem Off in der Fernsehserie Stirlitz sagt, “sie wussten es noch nicht”. Die Rassentheorie galt damals als Wissenschaft.
     Das heißt natürlich nicht, dass die Biologie die Wurzel allen Übels ist. Aber es zeigt, dass Menschen die Wissenschaft missbrauchen können. Genauso wie man die Religion missbrauchen kann oder was auch immer. Doch wenn ein Biologe die Früchte des Missbrauchs der Wissenschaft – insbesondere der Biologie – auf den zersetzenden Einfluss der Religion zurückführt, so ist das genaue Gegenteil der Fall. 

Sühne: Warum nicht einfach verzeihen?

    Der schärfste Einwand von Dawkins richtet sich jedoch gegen die biblische Lehre vom Sühneopfer. Er schreibt: “Man mag sich fragen, warum Gott uns nicht vergeben hat, wenn er es wollte. Aber nein, das ist nicht gut genug für einen Charakter wie Gott. Jemand muss leiden, am besten schmerzhaft und tödlich. “Ja, und alles, was dem Gesetz nahe ist, wird durch Blut gereinigt, und ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung”, heißt es im Hebräerbrief (9,22), und Paulus erklärt oft mit anderen Worten, dass “Christus für unsere Sünden gestorben ist, wie es in der Schrift steht” (1. Korinther 15,3).
    Dawkins fragt sich, warum Gott die Kreuzigung nicht gestoppt hat, so wie er die Opferung Isaaks gestoppt und die allgemeine Vergebung auch ohne sie verkündet hat. Nun ist Dawkins nicht der einzige, der die biblische Lehre angreift, Christus sei “um unserer Sünden willen durchbohrt und um unserer Missetaten willen gequält worden; die Strafe für unseren Frieden lag auf ihm, und durch seine Wunden sind wir geheilt” (Jesaja 53,5). Auch manche christliche Theologen haben versucht, diese Aussage abzuschwächen oder zu umgehen.
    Aber die Bibel sagt es, die heiligen Väter sagen es, und deshalb müssen wir diese Verwirrung im Detail aufklären. Die Propheten, die Apostel und der Herr selbst sagen, dass die Vergebung unserer Sünden durch das Opfer des Erlösers am Kreuz gefunden wird. Was ist der Grund für diese Verwirrung?
    Kurz gesagt, es handelt sich um eine Verwechslung zwischen einer Situation, in der eine Privatperson vergibt, und einer Situation, in der ein Richter vergibt; zwischen einer Begnadigung, die sagt: “Ich bin nicht mehr zornig”, und einer Begnadigung, die sagt: “Du wirst nicht bestraft für das, was du getan hast”. Natürlich ist das Heil nicht auf diesen Akt der Vergebung reduziert; der Mensch hat einen langen Weg der geistlichen Verwandlung in der Kirche vor sich. Aber er beginnt mit der Vergebung der Sünden.
    Hier ein Beispiel. Nach einem missglückten Attentat auf Kaiser Alexander II. wandte sich der Terrorist Karakosov an den Kaiser und bat um Vergebung. Der Kaiser antwortete ihm: “Als Christ vergebe ich dir, aber als Herrscher kann ich dir nicht verzeihen. Der Herrscher ist kein Privatmann, er hat die Aufgabe, die Übeltäter zu zügeln, und wenn er das versäumt, stürzt er das Land ins Chaos und das ihm anvertraute Volk in viele Katastrophen. Wenn du ein Privatmann bist und in dein Haus eingebrochen wird, kannst du dem Dieb verzeihen – das wäre eine lobenswerte Großzügigkeit. Wenn du aber Richter bist und ein Dieb vor dir steht und du ihn, anstatt die Strafe zu verhängen, die das Gesetz vorschreibt, freilässt, als wäre er unschuldig, dann tust du nichts Lobenswertes. Du bist ein korrupter Richter und ein Anstifter zum Bösen.
    Es ist eine Sache, eine persönliche Schuld zu vergeben, und eine andere, eine ungerechtfertigte Verurteilung auszusprechen. Wir können zu jemandem sagen: “Warum verzeihen Sie nicht einfach?”, aber es erscheint uns kaum angemessen, zum Richter zu sagen: “Warum ignorieren Sie nicht einfach das Verbrechen?
    Eine weitere Verwirrung, in die Menschen oft geraten, besteht darin, dass sie ihre persönliche emotionale Reaktion auf eine Straftat mit einem gerechten Urteil über die Straftat verwechseln. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kritiker des Sühnopfers sich ein karikaturhaftes Bild von Gott als jemandem malen, der über das Verhalten der Menschen zutiefst verärgert ist. Er kann sich nur beruhigen, indem er seinen Zorn an Jesus “auslässt”, so wie zornige Menschen ihren Zorn an einem Fremden und Unschuldigen “auslassen” können. Aber genau das ist die Karikatur, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Gott liebt die Menschen immer und ständig und will ihr Heil. Gottes Gericht ist keine emotionale Reaktion auf eine persönliche Beleidigung. Es ist eine gerechte und notwendige Reaktion des Schöpfers und Hüters des Universums auf das Böse, das es verunreinigt, zerstört und entstellt.
    Ebenso darf ein weltlicher Richter keine persönliche Feindseligkeit gegenüber dem Angeklagten empfinden – oder besser gesagt, er sollte sie nicht einmal empfinden. Er kann ihn sogar bedauern und mit ihm sympathisieren, aber als Richter, der Gerechtigkeit übt, kann er nicht einfach sagen: „Ich bin heute in einer sentimentalen Stimmung, Sie tun mir leid, gehen Sie nach Hause“. Als Richter handelt er nach der Gerechtigkeit, nicht nach seinen emotionalen Reaktionen.
    Gott kann nicht ungerecht handeln, das ist seine moralische Natur. Auch die Schöpfung selbst, die durch die Sünde zerstört wurde, braucht Gerechtigkeit. Und Gottes unerschütterliche Liebe schenkt uns die Erlösung in Jesus Christus. Gott selbst wird Mensch – der einzige Sündlose im ganzen Menschengeschlecht -, damit die Menschen durch seinen Tod erlöst werden und ihre Rechtfertigung durch seine Gerechtigkeit erkauft wird. Wir haben den Himmel nicht verdient, aber Christus hat ihn verdient für alle, die sich seiner Kirche anschließen durch Buße, Glauben, Taufe und das Halten der Gebote.


Die Bibel und das Problem des atheistischen Moralismus

   Es sei darauf hingewiesen, dass die Kritik der Bibel (oder des christlichen Glaubens) aus moralischer Sicht bestimmte moralische Normen voraussetzt, und dies wirft unweigerlich die Frage auf, woher wir diese Normen nehmen. In einem von Gott geschaffenen Universum ist dies verständlich – Gott ist der Urheber des moralischen Gesetzes, vor Seinem Angesicht gibt es etwas wirklich Gutes und etwas wirklich Böses. Aber wenn wir die atheistische Weltsicht akzeptieren: Es gibt keinen Gott, der Mensch ist durch das Wirken unpersönlicher und außermoralischer Naturkräfte entstanden – woher nehmen wir dann die Kriterien für die Unterscheidung von Gut und Böse? Gibt es im Universum ohne Gott überhaupt Gut und Böse? Einerseits nein, und das schreibt Dawkins ausdrücklich. Andererseits fällt er pauschale und abschließende moralische Urteile, als gäbe es Gut und Böse. Hier zeigt sich ein inhärenter Widerspruch des atheistischen Weltbildes, auf den wir später noch zurückkommen werden.

Sergey Khudiev, Orthodoxer Apologet, Journalist.

Dies ist die Hälfte eines Artikels über Davkins, in der Fortsetzung werden die in seinen Büchern behandelten Themen ausführlicher besprochen. Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat und Sie die Fortsetzung lesen möchten, schreiben Sie uns bitte an

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